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Es gibt kein „richtiges Handeln“ – aber mindestens zwei.

  • Lena
  • 10. Okt. 2021
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 10. Okt. 2021

Dialektisches Werteverständnis nach Schulz von Thun

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Das Wertequadrat von Schulz von Thun verabschiedet sich von der Einteilung der Welt in Richtig und Falsch. Viel mehr wird das menschliche Handeln auf einem Spektrum verstanden, auf dem es mehrere konstruktive aber auch destruktive Handlungsentscheidungen gibt.

Bereits Aristoteles sprach davon, dass das richtige Handeln nicht das Gegenteil von schlechtem Handeln ist, sondern viel mehr die Mitte zwischen zwei Extremen. Zum Beispiel stellt „Tapferkeit“ die Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit dar.


Feigheit – Tapferkeit – Tollkühnheit


Schulz von Thun geht noch einen Schritt weiter und sagt, dass sich immer ZWEI positive Werte diese Mitte teilen. So würde sich zur Tapferkeit auch noch die „Vorsicht“ dazugesellen, die für das Überleben ebenso wichtig ist.


Feigheit – Vorsicht – Tapferkeit – Tollkühnheit


Diese beiden positiven Werte in der Mitte werden bei Schulz von Thun „Schwesternwerte“ genannt. Man kann jeden erdenklichen Wert mit seinem Schwesternwert paaren.


Zum Beispiel:

  • Freiheit – Sicherheit

  • Selbstverwirklichung – Gemeinschaftssinn

  • Friedlichkeit – Konfrontation

  • Sparsamkeit – Großzügigkeit

  • Ehrlichkeit – Höflichkeit

Es ist mehr als nur eine Theorie, es ist eine Weltanschauung, in der man den Menschen in einem ständigen Streben nach Balance zwischen zwei Punkten versteht. Diese Perspektive löst die Vorstellung ab, der Mensch würde nach Endpunkten streben, wie etwa nach absoluter Wahrheit, oder endlosem Erfolg. Viel eher will er immer zwei gegensätzliche Dinge gleichzeitig und die Aufgabe eines jeden Menschen besteht darin, diese Spannung ein Leben lang auszuhalten und sich immer wieder aufs Neue zu positionieren. Diese „auszuhaltende Spannung“ kann einen mühevollen und rastlosen Unterton vermitteln. Aber genauso kann man es als eine Lebenskunst verstehen, einen Balanceakt, den wir meistern können. Uns von dem Glauben zu verabschieden, wir würden eines Tages vollendet sein, kann uns auch befreien und uns dabei helfen, das größte menschliche Potenzial zu entfalten: die Liebe zur Unvollendbarkeit.


Was ist gutes Handeln?

Das gute Handeln ist also kein Fixpunkt, sondern ein Spannungsfeld. Es handelt sich um eine „dynamische Balance“, deren Position sich je nach Situation verändern kann. Es kann Momente geben, in denen es wichtig und konstruktiv ist, die knallharte Wahrheit zu sagen, auch wenn sie weh tut. In anderen Situationen kann wiederum mehr Taktgefühl und Rücksicht gefordert sein.

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Gutes Handeln funktioniert nur, wenn man zwei Werte miteinander vereint. Fehlt einer, so entartet der andere. Ehrlichkeit ohne Höflichkeit wird zu „verletzender Unverblümtheit“. Höflichkeit ohne Ehrlichkeit wird dagegen zur „manipulativen Fassadenhaftigkeit“. Es ist ein verfehlter Anspruch, nur eine Seite anzustreben, also „nur ehrlich sein“ oder „nur höflich sein“. Im guten Handeln geht es immer darum, beide Schwesternwerte ineinander zu integrieren.


Polarisierung verstehen

Auch beim Verständnis moderner, politischer Probleme kann uns die dialektische Gegensätzlichkeit helfen. Im politischen Kontext kommt es ständig vor, dass sich zwei Personen, oder zwei Gruppen, gegenüberstehen, die gegensätzliche Werte vertreten. Die einen legen mehr Wert auf Sicherheit, die anderen mehr Wert auf Freiheit. Polarisierung bedeutet, die Gegenmeinung zu entwerten, sie also automatisch in dem negativen Bereich zu verorten. Spricht die eine Partei von Freiheit, so wirft ihr die andere eine Neigung zur Anarchie und Unordnung vor. Spricht die andere Partei von Sicherheit, wirft ihr die eine Unterdrückung und Einschränkung vor. Hier ist kein Dialog mehr möglich, weil beide Parteien von positiven Werten sprechen wollen, beim anderen aber nur die Entwertung hören.

Eine gelungene Unterhaltung wäre nur dann möglich, wenn man die beiden Werte nicht als konkurrierend auffasst, sondern als sich ergänzend. Es gilt hier zu verstehen, dass man sich nicht zwischen Entweder-Oder entscheiden muss. Es gibt auch noch den Bereich in der Mitte. Eine gelungene Diskussion könnte darin bestehen, den konstruktiven Kern jeder Aussage zu finden und über die Balance zwischen den zwei Werten zu verhandeln.


Das Werte- und Entwicklungsquadrat

Diese Anschauung kann auch verwendet werden, um persönliche Herausforderungen und Wachstumsmöglichkeiten zu beleuchten. Schulz von Thun hat hier die Werteskala in einem Quadrat angeordnet und mit Verbindungslinien die möglichen Entwicklungsrichtungen dargestellt.


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Die zwei positiven Werte sind oben angeordnet und die Verbindungslinie zwischen ihnen stellt den positiven Handlungsbereich dar, den es anzustreben gilt: In diesem Beispiel zwischen Wahrhaftigkeit (Ehrlichkeit) und Wirkungsbewusstsein (Taktgefühl).

Von den unten angeordneten negativen Übertreibungen kann die Entwicklungsrichtung diagonal zum jeweiligen konträren Gegensatz eingezeichnet werden. Die Entwicklungsrichtung einer Person, die zum Beispiel oft ein falsches Gesicht aufsetzt, um es anderen recht zu machen, wäre also von „manipulativer Fassadenhaftigkeit“ in Richtung „Ehrlichkeit“.

In dem Quadrat kann man erkennen, dass auch die beiden entwertenden Übertreibungen eine Verbindungslinie besitzen, die andeuten, dass auch ein direkter Sprung zwischen den Extremen möglich ist. Es handelt sich hierbei um eine Überkompensation, bei der sich ein Mensch verändern möchte, aber stattdessen im Zu Viel vom Gegenteil landet.

Veränderung passiert manchmal nicht auf direkten Weg, sondern kann zwischen den Extremen erst hin und her pendeln, bevor ein positiver Umgang gefunden wird. Bei dem Versuch sich zu verändern, besteht die besondere Herausforderung darin, die ungewohnte Spannung, in diesem Beispiel zwischen Höflichkeit und Ehrlichkeit, auszuhalten. Der langfristig stabilere, aber auch schwerere Weg ist die Veränderung durch langsame Entwicklung hin zum konträren Gegensatz. Hier wird neues Verhalten erlernt, das sich durch wiederholte Erfahrungen im positiven Spannungsbereich verfestigt.


Entwicklungsziel

Jeder Mensch neigt ganz natürlich mal eher zu dem einen mal zu dem anderen Wert. Daraus ergeben sich die unterschiedlichsten Charakterzüge. Und jeder Mensch befindet sich auf seinem individuellen Entwicklungsweg.

Aber gibt es ein universelles Entwicklungsziel? Eine Richtung, die wir als Menschen gemeinsam anzustreben versuchen?

Hält man sich an Schulz von Thun so ist dieses Ziel, das Leben in der Mitte. Nur ein dialektisches Leben ist ein gelungenes Leben. Jede neue Begegnung, jede neue Situation fordert uns darin heraus, unsere dynamische Balance zu halten, oder bei Gleichgewichtsverlust wiederzufinden. Das was es hier zu erreichen gibt, ist ein möglichst weiter, positiver Handlungsspielraum, in dem wir uns situationsgerecht positionieren können. Dabei gibt es unendliche Kompetenzen, die wir uns aneignen können, um unseren Handlungsraum zu erweitern: Die Kunst, liebevolle Worte zu finden; den Mut, Schwieriges anzusprechen; die Resilienz, Konfrontation auszuhalten; das diplomatische Geschick, Menschen von sich zu überzeugen… All das kann uns dazu befähigen, mit Situationen, die das Leben für uns zu bieten hat, gut umzugehen.

Und jede neue Situation ist eine neue Chance, unseren Standpunkt in der Mitte des Lebens einzunehmen. Denn dort ist der Raum eines guten Lebens.


Quelle:

Schulz von Thun, Friedemann (2019) “Miteinander reden: 2 – Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung – differenzielle Psychologie der Kommunikation.“ Hamburg: Reinbek.

Schulz von Thun, Friedemann (2019) „Miteinander reden: 4 – Fragen und Antworten“ Hamburg: Reinbek.

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