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Galatea

  • Lena
  • 23. Sept. 2021
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 10. Okt. 2021




Sie fühlte Röte in ihre liebreizenden Wangen steigen, ehe sie das Gefühl kannte, welches sie dazu veranlasst hatte. Ängstlich – so ängstlich wie man nur sein kann, wenn man eine völlig neue Welt vor sich entstehen sieht – blickte sie empor in die Sterne. Durch ein Geschenk der Götter konnte sie jeden Gegenstand, den ihr Blick berührte, augenblicklich benennen.

„Der Himmel“, flüsterte sie. In Erstaunen zuckte sie zusammen, als sie ihre eigene Stimme hörte. Verzagt durch deren Klang wagte sie es nicht mehr, ihre Lippen zu öffnen. Und so formulierte sie ihre ersten Gedanken. Sie begann damit, sich von einem Gegenstand zum nächsten leiten zu lassen, um es sich leichter zu machen, denn ihr Verstand war schnell zu erschöpfen. Sie lernte zwar geschwind, ganz so als wäre die Zeit in ihrem Leben wie ein Tuch an einem Punkt in der Mitte emporgezogen worden, doch trotzdem war ihre Gedankenwelt die einer Neugeborenen.

Sie schlug ihre Augen erneut in Richtung Himmel auf.

Vom Großen zum Kleinen. Nacht. Sterne. Ein Fenster. Ein Raum. Ein Tisch. Auf dem Tisch ein Meißel. Liegen. Auf dem Tisch liegt ein Meißel. Und ein Hammer. Elfenbein. Splitter von Elfenbein. Schmuck, Perlen. Um den Tisch herum verteilt. Frauen tragen Schmuck. Ein Bett. Unter ihr. Weiche Kissen. Ein Körper. Ihr eigener Körper. Nackt. Ohne Kleidung. Sie liegt nackt auf einem Bett. Über ihr, direkt über ihr, über ihren nackten Körper gebeugt...

Erneut schoss ihr die Röte ins Gesicht. Und dieses Mal fand sie heraus, wodurch Schamgefühl entstand: Durch den Blick eines anderen und durch einen Gedanken, eingepflanzt in ihren Kopf, als wäre es ihrer, doch nicht ganz ihrer.

Ein Mann, gebeugt über meinen nackten Körper.

„Keine Angst“, raunte die tiefe, warme Stimme. Er senkte sein Gesicht über dem ihrigen herab, griff in einen Anflug von unbändiger Gier in ihr Haar, das sich in verspielter Unordentlichkeit über das Kissen ergoss, und befriedigte sich lechzend an ihren zarten, unschuldigen Lippen. Seine Leidenschaft war jedoch noch nicht im Geringsten gestillt und schon tastete er, entflammt durch ihren schüchternen Blick, nach dem weichen Busen und drückte seine Lenden an ihre unbeschmutzten Schenkel.

Ihre Pupillen zitterten zwischen den Eindrücken hin und her, überflutet und ertrinkend in den neuen Reizen, die sie nicht einzuordnen vermochte. Doch wuchs in ihrem Inneren ein nicht unterdrückbares Gefühl, das sich zu der Überforderung und der Angst angesichts dieser ihr unbekannten Welt mischte. Es lässt einen beinahe an einen Urinstinkt glauben, den sie in sich entdeckte, doch war es eher die Tugend, die sich wie ein Gesetz in ihre Seele brannte und ihr von außen auferlegt worden war. Zügellosigkeit soll ihr die größtmögliche Schuld werden. Die Notwendigkeit der Sitten ergab sich ihr beim Betrachten ihrer Umwelt genauso l automatisch wie die Bezeichnung der Gegenstände, die sie erblickte.

Ich bin eine Frau.

Diese Erkenntnis weckte in ihr die Kraft zu schreien und den Mann gewaltsam wegzustoßen. Sie sprang auf, griff gleichzeitig aber nach dem Laken, um sich vor dem Blick des Unbekannten schützen zu können.

Beiden, dem Zurückgestoßenen und der Neugeborenen, war die Überraschung über die Kraft, die in ihrem zarten Körper verborgen war, ins Gesicht geschrieben. Zitternd stand sie da, ihre bernsteinfarbenen Augen weitaufgerissen, zurückweichend bis sie die kalte Steinwand in ihrem Rücken spürte.

„Hab keine Angst vor mir!“, wiederholte der Mann besänftigend. „Ich bin es doch... Du weißt wer ich bin! Du bist meine Frau.“

Er machte einen vorsichtigen Schritt in ihre Richtung. In einer beschwichtigenden Geste streckte er seinen Arm aus, die Handflächen nach oben gerichtet, seine Finger zuckten in ihre Richtung, als würde in ihnen noch Spuren der eben entfachten Wollust lauern. Wie angewurzelt blieb er aber stehen, als er eine Bewegung ihrerseits wahrnahm. Sie spürte, dass sie von ihm nichts Schändliches zu befürchten hatte, sollten seine Versprechen wahr sein.

In einem Anflug von kindlicher Neugier legte sie den Kopf schief und musterte den jungen Mann, seine dunklen, besorgten Augen, die braunen Locken, die seidig auf seinen Schultern ruhten, die weichen Gesichtszüge eines Jünglings, dem nur feiner Flaum an den rosigen Wangen wuchs. An seinem langen Körper trug er eine Schürze, hie und da mit weißem Staub bedeckt, so weiß wie ihre von der Sonne unberührte Haut.

„Ich habe dich geschaffen“, sprach der Mann weiter, „ich, Pygmalion, mit meinen eigenen Händen. Du bist durch die Gnade der Götter meine Frau geworden.“

Er tat noch einen Schritt auf sie zu.

„Dich nenne ich von nun an Galatea.“

Immer angestrengter versuchte sie all die Informationen einzuordnen, die sie überkamen. Doch keine Lichtung der Gedanken war in Aussicht, als sie erfuhr wer er war. Ihr Schöpfer. Ihr Vater. Sein Bild, das er so sehr liebte, dieses Bild sollte sie sein. Sie soll nicht wie die anderen Frauen sein. Verschont soll sie bleiben von den weiblichen Fehlern, deren Pygmalion müde geworden war. Zügellosigkeit, Unehrenhaftigkeit, Arglist und Schande soll sie niemals streifen.

Das Sollen, so viel soll sie, das Sollen sprengte ihren Verständnisraum, die Last seiner ihr auferlegten Pflichten zwang sie in die Knie. Sie schrie als ihr die schützenden Leinen aus der Hand fielen und ihren weißen Busen freigelegte. Sie schrie, als sie erfuhr, dass sie den Mann lieben musste, sie schrie, als sie merkte, dass sie keine Wahl hatte und dass ihrer Existenz einer Form in Elfenbein vorausging. Dankbar sein sollte sie ihrem Schöpfer, dachte sie bevor sie in dem Elend ihres Ausgeliefertseins zusammenbrach und Dunkelheit ihr die Augen schloss, um ihren erdrückten, unerfahrenen Geist zu schützen.

Pygmalion stand da, vor ihm die Frau bewusstlos zu Boden gesunken. Er ließ sich auf die Knie fallen und berührte sie, wie er es auch stets getan hatte, als sie noch seine Statue war.

„Galatea“, sprach er. Liebe füllte seine Stimme. „Ich werde dich alles lehren, was du wissen musst. Durch meine Führung wirst du dich in diesem Leben zurechtfinden. Du bist mein und du wirst es immer bleiben.“ Zärtlich strich er ihr eine Strähne aus dem makellosen Gesicht, um ihre roten Lippen küssen zu können. Und er küsste sie wieder und wieder, um sich zu vergewissern, dass dieses größte ihm geschehene Glück auch ja kein Traum war.




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